Cover
Titel
Natur und Moderne um 1900. Räume – Repräsentationen – Medien


Herausgeber
Paulsen, Adam; Sandberg, Anna
Reihe
Edition Kulturwissenschaft 23
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sabine Krause, Theorie und Empirie der Bildung und Erziehung, Universität Wien

Die Zeit um 1900 ist durch facettenreiche Forschungen bereits gut dokumentiert und gedeutet. Das heißt jedoch nicht, dass nicht in anderen Fragezusammenhängen noch weitreichende Einsichten möglich sind. Eine solch neue Perspektive ermöglicht etwa der partielle Rückgriff auf Quellen des skandinavischen Raums, der ergänzt und kontrastiert wird durch Fallstudien aus dem deutschen Raum. Im Sammelband „Natur und Moderne um 1900“ werden in 15 Beiträgen solche deutsch-skandinavischen Beispiele und Quellen vorgestellt und durch einen einleitenden Beitrag der Herausgeberin und des Herausgebers ergänzt.

Paulsen und Sandberg geben an, dass dieser Band aus der „Besorgnis“ über die „Gleichgültigkeit und Passivität“ entstanden sei, mit der „Entscheidungsträger der westlichen Hemisphäre die immer alarmierenderen Berichte vom Zustand unserer natürlichen Umwelt zur Kenntnis nehmen“ (S. 9). Mit einem kultur- und literaturwissenschaftlichen Rückgriff auf die Zeit um 1900 erhoffe man sich, „ein neues Licht auf die gegenwärtige Situation werfen“ (S. 10) zu können. Inwiefern ein solches Unternehmen überhaupt von Erfolg gekrönt sein kann, sei dahingestellt.

Die hier gewählten Perspektiven gewähren Einblicke in die „Kolonisierung des Raumes“, in „Literarische Repräsentationen der Natur“ und in „Diskurse und Medien der Moderne“. Im einleitenden Beitrag wird ein Überblick über Kontexte und Begriffe im weit angelegten Forschungsfeld geboten und das inhaltliche Spektrum der einzelnen Beiträge angedeutet. Diese sehr lesenswerte Einführung hilft der Leserin, sowohl Anliegen als auch Struktur des Bandes nachzuvollziehen, sie verdeutlicht ausführlich die Anschlüsse an bestehende Forschungen zu Moderne und zu Natur und sie benennt Möglichkeiten für die Verbindung der betrachteten Phänomene.

Zentrales Motiv der Auseinandersetzung innerhalb der ersten Beitragsrunde ist die „Kolonisierung des Raumes“, eigentlich der Natur. Durch die Beiträge zieht sich der Verweis auf das Paradox von Moderne und Natur um 1900: einerseits die Wahrnehmung des Fortschritts und der damit verbundenen Annehmlichkeiten, andererseits das Verlangen, diesen ein ursprünglich Natürliches entgegenzusetzen. Michael Ott arbeitet in seinem Beitrag dann auch den „alpinistischen Diskurs [… als] Echoraum der zeitgenössischen Zivilisationskritik“ mit „sakraler Codierung“ (S. 42f.) heraus. Deutlich wird die im bürgerlichen Diskurs beschworene und durch Alpenvereine aktiv verbreitete Idee der „charakterprägenden“ (S. 38) Seite der Bergwanderungen.

Im Spannungsfeld von Kolonisierung als Vermessung und räumliche Aneignung der Natur sowie Sakralisierung des Natürlichen sind auch die übrigen Beiträge dieses Themenfeldes einzuordnen. Adam Paulsen verdeutlich in seinem Aufsatz eindrücklich das Anliegen des Sammelbandes, historische und aktuelle Fragen zusammenzudenken. So zeigt er, dass das ökologische Denken nicht so traditionslos ist, wie beim Einsetzen der ökologischen Alternativbewegung in den 1970er-Jahren angenommen wurde. In den Beiträgen von Annegret Heitmann und Kathrin Maurer steht das Reisen durch die Natur im Vordergrund, wobei dies „im Zeichen des Komforts und kultivierten Lebensstils“ (S. 92) geschehe, wie Maurer herausarbeitet. Der letzte Aufsatz zur Kolonisierung des Raumes thematisiert den deutsch-englischen Garten als Ort des Kulturkontakts und der transkulturellen Fragestellungen. Vera Alexander deutet im Anschluss an Foucault den Garten als „halbreale Wunschwelt“ und mögliches und ermöglichendes Moment der Kritik an „Begrenzungen, denen sich Frauen an der Jahrhundertwende ausgesetzt sehen“ (S. 115).

Die zweite Zusammenstellung von Beiträgen gruppiert sich um die „Literarische Repräsentation der Natur“ und bezieht sich etwa auf Werke von Henrik Ibsen und August Strindberg. Gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass in ihnen die Moderne in Form von Technik oder Wissenschaft in ein bestimmtes Verhältnis zur Natur gesetzt wird: Bei Ibsen zerstört die Moderne die Natur, bei Strindberg erklärt die Wissenschaft die Veränderung in der Natur und ermöglicht scheinbar deren Beherrschung. Heinrich Detering kontextualisiert Ibsens Drama „Der Volksfeind“ umwelt- und diskursgeschichtlich und Karin Hoff kann in Strindbergs Roman „Am offenen Meer“ eine Renaissance der Natur feststellen, die letztlich jedoch zu einer Pattsituation zwischen Mensch und Natur bzw. Umwelt führt.

Dem Wechselspiel der Hinwendung zum Leben oder zum Tod in ästhetischen Manifestationen in der deutschen Lyrik zwischen 1890 und 1905 wendet sich Sven Halse zu. Er stellt heraus, dass durch die einseitige Betonung des Lebensbejahenden das Verständnis des Vitalismus ins Plakative verschoben „und die sehr zentrale, künstlerisch inszenierte Dialektik von Lebens- und Todesthematik unverstanden oder gar unbeachtet“ gelassen werde (S. 206).

Die „Repräsentation der Natur“ wird jedoch nicht nur in literarischen Werken analysiert, es werden hier auch Aufsätze zum Schaffen von Autoren und zur Rezeption durch Leserinnen und Lesern versammelt: Anna Sandberg beschäftigt sich mit dem Dichter und Botaniker Jens Peter Jacobsen und arbeitet die Widersprüchlichkeit von „fortschrittsskeptische[m] Ästhet“ (S. 161) und Reformer in Person und Werk heraus. „Heimat als Identität und ökologisches Bewusstsein stiftender Faktor“ ist der Titel des Beitrages von Axel Goodbody, in dem er zunächst einige Merkmale des heutigen Verständnisses von Heimat entwickelt, um mit einem so geschärften Blick an die Auswahl der zu analysierenden Romane um die Zeit von 1900 zu gehen. Dieses Vorgehen ermöglicht es, den gewählten Quellen eine neue Dimension abzugewinnen und andere Deutungsmöglichkeiten offenzulegen: Es wird sichtbar, dass ein literarisches Werk immer auch vom Leser geschaffen wird.

Christian Benne eröffnet mit seinem Beitrag „Natur und Natürlichkeit. Eine Lektüre von Friedrich Nietzsches ‚Wir Künstler‘“ die dritte Gruppe an Beiträgen, die unter der Überschrift „Diskurse und Medien der Moderne“ stehen. In der Beschreibung seines Vorhabens nimmt der Literaturwissenschaftler Benne einige Kritikpunkte an anderen Beiträgen des Sammelbandes insgesamt vorweg: Es gebe in der kulturhistorischen Forschung die „unheilvolle Tendenz“, Texte als Quellenmaterial nur zur Illustration „auszuschlachten“ (S. 237). Eine Auseinandersetzung bedürfe allerdings einer philologischen Arbeit, die „nicht sogleich von der historischen Thesenbildung ausgeht“ (ebd.).

Naturbilder sind der Gegenstand des sehr lesenswerten Beitrags „Die Ambimodernität der ‚Naturbilder‘. Zur Interferenz von Natur und früher Kinematographie“ von Stephan Michael Schröder. Zwischen Aufzeichnungsfunktion und Fiktionsfunktion erarbeitet der Autor eine normative Verknüpfung von Natur und Film: Mit einem Schwerpunkt auf nichtfiktionalen Filmen will er dazu beitragen, „die zum Dogma erstarrte Modernitätsthese zu problematisieren, aber auch ein allzu monolithisches Verständnis von Moderne […] in Frage zu stellen“ (S. 267). Für die historische Bildungsforschung ist dieser Beitrag insbesondere deshalb lesenswert, weil in ihm die faszinierende, aber auch „gefährliche“ Dimension des neuen Mediums Film zur Sprache kommt. Ist ein aktives (An-)Schauen durchaus erstrebenswert, wird das Fiktionskino „mit seiner ausgeprägten Effektökonomie und seinem Sensationalismus“ (S. 282) in den herangezogenen Quellen scharf kritisiert. Erstrebenswert erscheinen die Naturbilder, mit denen „das Kino ein so großartiger Bildungsfaktor sein“ könne (S. 282, zitiert nach Ellen Key).

Die Aufsätze von Mirjam Gebauer und Detlef Siegfried machen zwei Formen des Abbilds der Natur zum Gegenstand: Gebauer verdeutlicht in ihrem Beitrag die Ästhetisierung biologischer Formen und verknüpft am Beispiel von Haeckels Bilderatlas biologische und ästhetische Fragestellungen. Siegfried erhellt mit seinem Beitrag zur „Kartierung der Welt“ neue Erschließungs- und Wahrnehmungsprozesse von Raum und Natur. Er schließt damit inhaltlich den Kreis zur „Kolonisierung des Raumes“, durch welche der Band eröffnet wurde.

Hervorzuheben ist an diesem Sammelband die Verbindung von historischen Quellen verschiedener Couleur mit aktuelleren Debatten um Natur und Umweltschutz. Diese Mischung lässt den Anspruch des Bandes, aktuelle Debatten in ein neues Licht zu rücken, nicht zu verwegen erscheinen. Allerdings wirkt die Strukturierung des Bandes etwas diffus, da die ohnehin schon sehr weite inhaltliche Fassung der Beiträge für die Zeit um 1900 nochmals durch aktuellere Fragen und Positionen erweitert wird. Damit einher geht dann auch die Schwierigkeit, einen roten Faden zu spinnen, der die Leserin über die Schlagworte „Natur“ und „Moderne“ hinaus auch leiten kann.

Dieser Sammelband könnte ein Ausgangspunkt sein für vertiefende Arbeiten in den jeweiligen Schwerpunkten. Derweil werden selbst am Thema Interessierte nur einzelne Beiträge herauspicken, vielleicht andere als Anregung mitnehmen, die ganze Breite jedoch nicht zur Kenntnis nehmen können. Etwas zermürbend sind in verschiedenen Beiträgen die Bezüge auf die aktuelle Zeit, die mit deutlich erhobenem Zeigefinger geschrieben sind. So inhaltlich wichtig die Hinweise auf die Folgeprobleme von (Massen-)Tourismus sind, so sehr erscheinen sie hier deplatziert und den historischen Analysen nur lose zugeordnet.

Historischen Bildungsforschern wird eine Vielzahl von Bezügen bekannt vorkommen. Als spannende Erweiterung für historisch angelegte Forschungen nimmt die Rezensentin die kulturwissenschaftliche Frage nach den Praktiken und Diskursen in der Aneignung des Raumes, der literarischen Werke oder auch der Medien wahr. Diese Zugänge inspirieren zu einer Ausweitung praxistheoretischer Forschungen in der historischen Bildungsforschung, die über die bisherige Rezeption ausgewählter Werke oder Theoretiker deutlich hinausgehen kann und sollte.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension